Rolf: Standortbestimmung und Neu-Orientierung
In der ersten Sitzung sagt Rolf, ein 26-jähriger Informatiker, seine Spontaneität sei verloren gegangen. Sein Selbstvertrauen sei „nicht mehr so, wie es früher war“. Und: „…Ich möchte wieder freier sein. Ich möchte wieder etwas in die Finger nehmen und Spass daran haben!“
Rolf hatte die letzten Jahre sehr viel gearbeitet und sehr viele Überstunden gemacht. In den letzten Monaten wurde er innerlich stumpfer und fühlte sich mehr und mehr ausgebrannt, bis er schliesslich seine Informatiker-Stelle kündigte. Er war überzeugt, dass er eine Pause brauchte, um sich neu zu besinnen und wieder zu Kräften zu kommen.
Seine momentane Situation möchte er am liebsten mit einer Zeichnung ausdrücken: Er zeichnet einen „Kuchen voller Probleme“. Dann möchte er mehr Klarheit in sein Leben bringen und fragt er sich: „Worum dreht sich überhaupt mein Leben?“ In sechs Kästchen schreibt er seine wichtigsten Lebensbereiche:
Seine Familie / Beziehung zu seiner Freundin / Arbeit / Persönliche Interessen und Hobbys / Freunde / Wohnen
Nur schon mal diese sechs Lebensbereiche, um die es für ihn im Wesentlichen geht, aufgezeichnet zu haben, gibt ihm ein Stück mehr Klarheit. Rolf sagt, es tue ihm gut, hier einen Ort zu haben, wo er über sein Leben nachdenken könne.
Er kommt in sehr unregelmässigem Rhythmus zu mir: manchmal einmal pro Woche, dann alle zwei Wochen, dann macht er einen Monat Pause etc. Ich finde normalerweise ein regelmässiges Setting besser und effizienter. Rolf sagt, für ihn sei es so richtig. Ich muss das akzeptieren.
Über’s Ganze gesehen, steigt Rolf nicht in eine intensive Therapie ein, sondern lässt sich eher von mir während einzelnen Stunden begleiten, um über seine Situation nachzudenken. Dabei sind ihm meine Fragen und Einwände eine Bereicherung. In diesen Stunden sind vor allem die Bereiche „Arbeit“ und „Familie“ das Thema.
Zum Thema Familie:
Rolf wird bewusst, dass eine Beziehung zwischen ihm und seinem Vater fast fehlt; er fühlt sich seiner Mutter viel näher und war lange Zeit ihr einziger Ansprechpartner, wie er sagt. Er findet schon lange, dass seine Eltern sich trennen sollten, weil sie so oft Streit haben.
Meine Bemerkung, dass zwischen ihm und seinem Vater vermutlich eine Konkurrenzsituation bestehe, lässt ihn aufhorchen. Ich weise ihn darauf hin, dass es für einen Mann normalerweise wichtiger sei, zum Vater eine nahe Beziehung zu haben, als zur Mutter. Dies im Sinne Bert Hellingers (Systemisches Familienstellen): „Die Mädchen gehören mehr auf die Seite der Mutter, die Jungen mehr zum Vater.“
Ebenso finde ich es nicht so günstig für die persönliche Entwicklung eines jungen Menschen, wenn er sich zu sehr mit der Beziehung der Eltern beschäftigt. Zwischen den sich streitenden Eltern zu vermitteln (was Rolf jahrelang gemacht hat), ist eine Belastung und nimmt einem Menschen einen Teil seiner Kraft weg, die er eigentlich für sein eigenes Leben bräuchte.
Diese Aussagen bestätigen Rolfs vages Gefühl, das in die gleiche Richtung geht, das er aber noch nie so klar formulieren konnte. Er beschliesst zwei Wochen später, sich mehr von der Atmosphäre des Elternhauses abzugrenzen und „die Eltern ihren Käse selber machen zu lassen“, wie er es ausdrückt.
Zum Thema Arbeit:
Nach zwei Monaten selbst gewählter Arbeitslosigkeit, die ihm als Verschnaufpause sehr willkommen war, nimmt Rolf wieder eine Stelle in seinem Beruf als Informatiker an. Der einstige lange Arbeitsweg fällt weg, da der neue Betrieb an seinem Wohnort ist. Dadurch hat er mehr Gelegenheit, mit seiner Freundin zusammen zu sein, was beiden gut tut.
Rolfs innere Auseinandersetzung um das Thema Arbeit geht weiter. Die neue Stelle ist nicht wirklich eine neue Herausforderung. Es ist zwar finanziell beruhigend, wieder ein regelmässiges Einkommen zu haben. Aber Rolf fragt sich schon jetzt, wie lange es wohl gehe, bis es ihm dort langweilig wird. Was hat ihm an der letzten Stelle so gefallen, dass er dort sieben Jahre lang blieb und zufrieden war? Warum fühlte er sich plötzlich ausgebrannt? Was wäre sein beruflicher Traum? Wie könnte er dem ein Stück näher kommen? Ich bin gespannt auf das nächste Mal, wenn Rolf sich wieder zu einer Sitzung meldet.
Bernhard und Madeleine: Entscheidung zwischen 2 Frauen
Für Bernhard ging es darum, die Bedeutung seiner Beziehung zu Madeleine zu verstehen und sich zu entscheiden. Bei einigen wenigen Sitzungen war sie dabei, meistens war er allein da, weil es um seine Unklarheit in der Beziehung zu seiner Partnerin Madeleine ging. Sie war mit ihren Liebesgefühlen zu ihm immer klar und wollte mit ihm zusammen bleiben.
Bernhard, ein 40-jähriger Verkäufer von Landwirtschaftsmaschinen, war seit 18 Jahren mit seiner Partnerin Madeleine zusammen. Unverheiratet und kinderlos. Schon viele Jahre wohnten sie im eigenen Haus, das sie sich gebaut hatten. Sie hatten in der Anfangszeit eine sehr glückliche und harmonische Beziehung mit vielen ähnlichen Interessen.
Bernhard’s Ziele für die Therapie:
„Leidenschaft – lebendiger Sex – gute Nähe – glücklich sein“. Das Sexuelle zwischen ihm und Madeleine stimme schon seit Jahren nicht mehr, sagte er. Er empfinde keine erotische oder sexuelle Anziehung mehr zu ihr. Trotzdem fühle er sich ihr sehr verbunden und könne sich nicht vorstellen, sie zu verlassen. Er möchte die Beziehung retten und wieder ganz lebendig machen.
Bernhard hatte sich vor ein paar Monaten in eine andere Frau verliebt. Sexuell war es sehr schön, aber sonst konnte er sich nicht vorstellen, mit dieser anderen Frau eine Beziehung zu leben.
Madeleine hatte in einer Paarsitzung formuliert: „Das Oberziel soll sein, dass unsere Beziehung wieder zum Laufen und Funktionieren kommt.“ In einem Beziehungsbuch, das ich ihnen mitgegeben hatte, liest sie gerne und merkt, dass sie „zusammen sehr wenig über Gefühle sprechen“. Sie war clever genug, Bernhard wegen seiner mangelnden erotischen Anziehung und seiner Aussenbeziehung nicht unter Druck zu setzen. Sie wollte ihn auf keinen Fall verlieren, auch ihr war das Zusammenbleiben mit ihm sehr wichtig.
Bernhard fühlt sich immer wieder hin- und hergerissen zwischen den beiden Frauen. Er möchte Klarheit bekommen, auf welchem Weg es weitergehen soll. Er steckt im Dilemma: „Ich weiss nicht, was ich will“. Dieses Dilemma, das Bernhard so zu schaffen macht, kennen viele Leute nicht und denken deshalb, „das ist doch ganz einfach. Man wird sich klar, was man will, wenn man es nicht ohnehin schon weiss, und geht dann in diese bestimmte Richtung.“ Für Bernhard war das „Wissen, was man will“ eine schwierige Sache. So richtig schlimm und bewusst wurde dieses „Nichtwissen, was man will“ mit der Krise in seiner Beziehung zu Madeleine.
In seiner Kindheit musste er vor und nach der Schule auf dem elterlichen Hof viel mithelfen. Arbeiten, arbeiten, arbeiten, der kleine Bernhard kannte nichts anderes. Zudem hatte er eine gehbehinderte jüngere Schwester, auf die er oft aufpassen musste. Das tat er zwar nicht ungern, und auch die viele harte Arbeit auf dem Bauernhof „hat ihm nicht geschadet“ (wie er augenzwinkernd sagte). „Schaffe hani glernt!“ – Seine Kindheit, wo er wenig Kind sein konnte, wo er nur selten seinen Vorlieben und Neigungen nachgehen konnte, war für mich eine mögliche psychologische Erklärung für den Mangel an Ich-Kraft, an Sich-selbst-gut-Kennen.
In der Arbeit mit Bernhard schält sich immer mehr heraus: Das Wichtigste für ihn, heute mit 40 Jahren, ist zu lernen, sich selber zu sein. Nicht halbwegs zu ahnen, was andere wollen oder was von ihm erwartet wird, sondern direkter und radikaler sich selber zu erforschen und zu fragen: „Was willst du? Alles ist OK, alles ist erlaubt, es gibt keine Vorschriften, aber bitte keine halben Sachen. Halbe Sachen, halbes Wollen bringt dir in Beziehungen nur Probleme. Finde heraus, was du selber wirklich willst!“
Ein paar Jahre später treffe ich Bernhard zufällig in der Stadt. Er erzählt mir, dass er sich von Madeleine definitiv getrennt hat, was für ihn nicht einfach war, aber trotzdem richtig. In seiner neuen Beziehung ist er immer wieder daran, herauszufinden, wie viel Alleinsein und wie viel Zusammensein er braucht.
Anja: Beziehungen verarbeiten; den richtigen Partner finden
Anja, eine 40-jährige Sekretärin, ist allein erziehende Mutter von einem Sohn (19j.) und einer Tochter (16j.). Vor 5 Jahren war Anja mit ihrem damaligen Partner Daniel für einige Paar-Sitzungen bei mir.
Daniel ist nicht der Vater ihrer Kinder; mit ihm lebte sie 7 Jahre zusammen. Beide hatten nicht mehr viel Hoffnung, die Beziehung retten zu können, bei beiden hatten sich viel Frust und Verletzungen aufgestaut, und im Lauf der Paar- und Einzelgespräche wurde immer klarer, dass beide nicht mehr wirklich die Kraft hatten, an die Beziehung zu glauben und an einer Verbesserung der Beziehung zu arbeiten.
Schwierig für sie waren seine Wutausbrüche, die sie innerlich immer wieder von ihm distanzierten. Schwierig für ihn waren „ihr ständiges Kritisieren“ und ihre Überlegenheit im Gespräch. Für viele schöne gemeinsame Erlebnisse war er ihr dankbar, während sie ihm vor allem für das, was er für ihre Kinder getan hatte, sehr dankbar war. Es kam dann, 3 Monate nach Beginn der Paartherapie, zur Trennung.
Später hatte Anja während 3 Jahren eine Beziehung mit einem etwas älteren Mann namens „Stefan“, ohne dass die beiden zusammenwohnten. Diese Beziehung fand Anja eigentlich schön. Der selbständig arbeitende Stefan bekam nach 2 ½ Jahren berufliche Probleme und zum ersten Mal in seinem Leben starke Existenzängste. Als Folge dieser Existenzängste stieg er plötzlich und unerwartet aus der Beziehung aus und war auch zu keinem Gespräch mehr bereit. Dieser schroffe Beziehungsabbruch von Stefan machte Anja sehr zu schaffen. Das zu verarbeiten und innerlich abzuschliessen, war auch unser Thema.
Ein weiteres Thema von Anja war eine neue Begegnung mit einem Mann namens „Ralph“. Obwohl sie grundsätzlich keine ängstliche Person ist, merkte sie, dass sie Angst bekam. Weil diese Begegnung sie sehr aufwühlte und ihr unter die Haut ging, hatte sie „richtig Angst, dass das wieder nichts wird.“
Was ihr an diesem Ralph gefiel, war ganz vieles:
Er gefiel ihr, hatte einen spannenden Beruf, eine gute Selbstsicherheit, war sinnlich und leidenschaftlich und war für Anja „emotional spürbar“. Negatives über Ralph wusste sie nichts zu berichten.
In unseren Gesprächen konnte Anja ihre Gedanken und Gefühle besser ordnen. Sie wurde wieder klarer und mutiger. Mutig, sich einzulassen auf eine neue Beziehung, aber auch mutig, „Nein“ zu sagen oder „Nicht so schnell“, wenn es ihr zu schnell ging.
In der letzten Sitzung erzählte sie mir, dass Ralph zum ersten Mal bei ihr zuhause war, und dass es sehr gut war. Sie spürte allerdings, dass die Geschichte mit Stefan immer wieder hoch kam.
Christoph: Mehr männliche Kraft und Lebensfreude gewinnen
Christoph schreibt mir: „Ich schleppe in meinem Leben seit vielen Jahren einige Probleme mit mir herum, die ich leider alleine bisher nicht beheben konnte und mir erhoffe, dies mit externer Hilfe angehen zu können. Die Probleme erschweren mir immer mehr das Leben in Familie, Beziehung, Beruf:
Fehlendes Selbstvertrauen / Es immer allen recht machen wollen, niemandem weh tun / Trägheit, Alltagstrott / Mangelnde Kommunikation, bin eher ein ruhiger, zurückgezogener Mensch / Gefühl, den Boden unter den Füssen zu verlieren / Manchmal im Verhalten noch ein Kind, fühle mich zu wenig als „Familienführer“, dadurch bleibt viel an meiner Frau hängen.“
Christoph ist ein 36-jähriger Mathematiker, arbeitet bei einer Versicherung, ist verheiratet und hat mit seiner Frau 2 kleine Kinder.
Ich empfinde ihn als etwas scheu – und zugleich mutig. Er ist entschlossen, seine eigenen Teile anzuschauen und weiter zu kommen. Als wir zusammen die Situation seiner Herkunftsfamilie anschauten, wurde klar, dass er eine gewisse Schwere von seinem Vater übernommen hat. Dieser hatte als Verdingbub eine schwere Kindheit erlebt und war seinen Kindern nie ein Vorbild in Lebensfreude und männlicher Kraft, eher das Gegenteil. Das Grundgefühl zur Herkunftsfamilie an Christophs Platz ist: „Ich habe keine Lust, in diese (väterliche) Familie hineinzuschauen. Das belastet mich. Ich möchte mich gegenüber der Schwere des Vaters mehr abgrenzen. Ich muss noch mehr mein eigenes Leben aufbauen.“
Zur Arbeit an einem besseren Selbstwertgefühl gehört auch die sogenannte „Positiv-Liste“, eine lange Liste von positiven Qualitäten, Fähigkeiten, gelungenen Erlebnissen und Charaktereigenschaften, die er hat. Er staunt, wie viel da zusammen kommt, und wie gut es tut, diese (als Hausaufgabe schön gestaltete) Liste von positiven Dingen immer wieder anzuschauen. „Das alles bin ich, das alles ist gut an mir…!“
In einer anderen Sitzung sprechen wir über die bevorstehenden Familienferien, die mit einem befreundeten Paar geplant sind, die ebenfalls Kinder haben. Ich ermutige ihn, seiner Frau zu sagen, dass die Ferien für ihn nicht nur als Familienereignis wichtig wären, sondern dass er sich für diese Ferien auch etwas Zeit für sich selbst und etwas Zeit für die Paar-Beziehung wünscht. Später erfahre ich, dass das nur zum Teil geglückt ist, und dass er diese Ferien vor allem schwierig erlebt hat.
Thema Beruf: Dort geht’s Christoph grundsätzlich nicht schlecht. Ihn beginnt aber mehr und mehr zu stören, dass neue Projekte und Arbeitsaufträge von seinem Chef so unstrukturiert und unklar daher kommen. Gar nicht so einfach, dem Chef gegenüber neue Töne anzuschlagen, wie zum Beispiel: „Für mich wäre es wichtig, dass neue Projekte und Aufträge klarer strukturiert werden. Ich bräuchte von dir klarere Anweisungen! Geht das?“
Zwei Monate später beginnt Christoph über eine Weiterbildung nachzudenken und bekommt diese auch bewilligt. Das tut ihm sehr gut.
In der Zwischenzeit ist der schwer kranke Vater seiner Frau verstorben. Für seine Frau, die sich viel mit ihrem sterbenden Vater beschäftigt hat und jetzt trauert, kann Christoph gut „der ruhende Pol“ sein, der sie stützt, wo immer es geht. Neben der persönlichen Betroffenheit über diesen Tod des Schwiegervaters gelingt es Christoph, für die ganze Familie Kraft und Ruhe auszustrahlen.
Nach einer 2-jährigen Pause meldet er sich wieder bei mir.
Es geht ihm viel besser. Er berichtet, dass es ihm beruflich wieder ganz gut geht und dass es zwischen ihm und seiner Frau wieder Umarmungen und neue Nähe gibt. Zwar sei noch nicht alles so, wie er es sich wünscht, aber er spürt, dass es aufwärts geht. – Seine Frau hat neben der Betreuung der Kinder eine Teilzeit-Tätigkeit aufgenommen, die ihr gut tut und die Stimmung leichter macht.
Unsere Arbeit geht noch ein bisschen weiter, bis ich Christoph dann ganz aus den Augen verliere.
Regina: Vom schlechten Gewissen frei werden
Regina ist 61, Lehrerin, nicht mehr berufstätig. Sie macht im Moment in Basel eine Ausbildung in Theologie, welche für sie sehr gut ist. Sie ist verheiratet mit ihrem Ehemann Bert, einem pensionierten Bäcker-Konditor. Sie haben 2 Töchter, 40 und 38 Jahre. Regina ist eine unerschrockene Frau mit viel Kraft, die schon viel erlebt hat, manche Niederlagen eingesteckt hat und immer wieder aufgestanden ist.
Ihr Thema sind „Altlasten“, wie sie sich ausdrückt. Das ständige schlechte Gewissen plagt sie. An dem möchte sie arbeiten. In ihrer Kindheit machte ihr die Mutter, zu der sie eine kühle und distanzierte Beziehung hatte, oft ein schlechtes Gewissen. „Meine Mutter übte psychischen Druck aus!“ sagt Regina. „Das solltest du nicht“, „Das tut man nicht“ usw. „Dass die Mutter mich auf den Schoss nahm, habe ich nicht gekannt“. Zu ihrem Vater hatte sie eine nahe und innige Beziehung. Ihr Vater war lieb, konnte sich aber nicht gegen seine dominante Frau wehren.
Zu ihren beiden Schwestern, die eine ist älter, die andere jünger als sie, hatte sie nie eine enge Beziehung. Aber Regina hatte immer die Rolle von derjenigen, die die Familie zusammenhält und für alle da ist. Von dieser Rolle möchte sie sich frei machen. Diese Rolle macht sie unfrei, in ihrem privaten Leben, innerhalb der Familie. Sie weiss, dass sie an sich ihren Schwestern zu nichts verpflichtet ist – aber Wissen allein genügt nicht. Das schlechte Gefühl nagt an ihr, wenn sie sich vorstellt, sich mehr von den Schwestern abzugrenzen.
Ausserhalb der Familie, mit ihrem Mann, mit Freunden, im Beruf oder in ihrer Zweitausbildung hatte Regina diese Unfreiheit nie gespürt.
Damit diese Arbeit des Frei-Werdens von Schuldgefühlen gelingen kann, ist es wichtig, dass sie sich auf alles, was ihr gut tut, konzentriert. Alles, was unterstützend, bestätigend, nährend auf Regina wirkt. Positiv unterstützend sind zum Beispiel ihr Ehemann Bert, ein befreundetes Paar Claudia und Robert, ihr Onkel Ruedi, ein immer noch lebender, 92jähriger Bruder ihres Vaters, die gute Beziehung zu ihren Töchtern, die sie hat, sowie die „geistige Nahrung“, die ihr die Theologie-Ausbildung gibt. Ebenfalls ihre Lieblingsbeschäftigungen Basteln, Kreativ-sein und die Gartenarbeit.
Wir arbeiten mit Lösungssätzen wie: „Ich erlaube mir, glücklicher zu sein. Ich darf mir das erlauben.“ – „Du darfst frei sein!“
Eine systemische Aufstellung, die Regina einen Monat später dazu macht, unterstützt sie weiter in diesem Prozess des Frei-Werdens.
Roland: Klarheit der Gefühle
Roland ist durch eine Empfehlung eines Bekannten zu mir gekommen. In die erste Sitzung bringt er eine Riesen-Liste von Themen mit, an denen er arbeiten möchte:
– Klarheit der Gefühle erlangen
– Verarbeitung der Trennung und bevorstehenden Scheidung
– Verhältnis zur neuen Freundin Arlette: Ist das Liebe oder nur ein Notanker?
– Allgemein das Verhältnis zu Frauen. Betrachtung der Frauen als Sexualobjekte
– Hemmungen, Kontaktschwierigkeiten, Depressionen, Lebensfreude, Antriebslosigkeit
– Angst vor dem Alleinsein
– Wenig Sozialkontakte, Isoliert sein
– Wenig Selbstwertgefühl, ängstlich und scheu
– Konfliktscheu, wenig Durchsetzungsvermögen
Von dieser riesigen Liste bin ich fast überwältigt. Dieser Mann scheint sehr viel über sich nachgedacht zu haben und sehr bereit zu sein, daran zu arbeiten. Unten auf dem Blatt steht, fett gedruckt: Ich möchte die Probleme angehen für mehr Lebensqualität.
„Eines nach dem anderen“, denke ich, und wir beginnen mit dem Dringendsten: „Klarheit der Gefühle erlangen“ und „Verarbeitung der Trennung und bevorstehenden Scheidung“.
Roland trennte sich nach 25 Jahren Beziehung das letzte Jahr von seiner Ehefrau Chantal. Die Scheidung ist in Vorbereitung. Seit einem halben Jahr hat er eine Freundin namens Arlette. Vor einer Woche ging diese Freundschaft in Brüche. Nur schon über Rolands Gefühle zu den beiden Frauen, über die Chancen und Grenzen dieser Beziehungen, über das seelische Auf und Ab, das Roland durchmachte, gab es sehr viel zu reden. Er schätzte sehr den Austausch „von Mann zu Mann“ – deshalb empfahl ich ihm, mal einen Abend in einer meiner Männergruppen zu schnuppern. In der Gruppe gefiel es ihm auf Anhieb, die Gespräche waren lebhaft und drehten sich mehrheitlich um Beziehungen und Berufliches, und so wurde die Therapie/Begleitung von Roland eine lebendige Sache, die immer wieder das Setting wechselte – von Einzelgespräch zu Gruppengespräch, und vielleicht gerade dadurch sehr effizient war.
Eines Abends in der Männergruppe erzählte ein Gruppenmitglied von einem Haus seiner Grossmutter in Solothurn, das dieser plötzlich geerbt hatte und jetzt verkaufen wollte, damit aber etwas hilflos und unerfahren war. Roland anerbot sich diesem Mann, ihm beim Hausverkauf zu helfen, da er schon einige Erfahrung mit Häusern hatte. Das wurde für beide Männer ein sehr gutes Erlebnis: Es entwickelte sich eine Männerfreundschaft zwischen den beiden, und es kam zu einem sehr guten Hausverkauf. – Das war für Roland seit Jahren eine erste positive Erfahrung in Sachen Kontakt und Freundschaft. Dank seiner Erfahrung mit Häusern konnte er einem anderen sehr konkret und praktisch helfen und diesem eine grosse Last abnehmen!
Zur Beziehungsverarbeitung zwischen Roland und seiner Exfrau Chantal: In verschiedenen Gesprächen und mit einem kleinen Ritual, das wir zusammen machten, in welchem Schönes gewürdigt und verdankt, Schwieriges und Unmögliches der Beziehung klar benannt und „in die Vergangenheit zurück gestellt“ wurde, bekam Roland mehr Distanz zur ganzen Beziehungsgeschichte und mehr emotionale Ruhe damit. Ein wichtiges praktisches Detail dazu war, (natürlich nach Absprache mit ihr) in Chantal’s Wohnung alles, was noch von ihm war, zu sich zurück zu nehmen und ihr ihre Dinge zurückzugeben. Damit auch auf der praktischen Ebene die Trennung stärker vollzogen wird.
Andere Therapiesitzungen hatten Rolands Kindheit zum Thema: Seinen Geschwistern gegenüber sich mehr bewusst werden, was er genau fühlt, und das aussprechen. Das muss nicht unbedingt im realen Leben dem Bruder oder der Schwester gegenüber ausgesprochen werden, oft hilft allein das Bewusstsein über die eigene Haltung einer Person gegenüber. Die Haltung drückt sich oft in einem Kernsatz aus, der alles Wichtige zusammenfasst. Zum Beispiel: „Du hast mir gar nichts zu sagen, du bist keinen Dreck besser!“ oder „Danke für alles, was du für mich getan hast, das vergesse ich dir nie!“
Den Eltern gegenüber bedeutete das Aussprechen und Klarstellen, zu Vater und Mutter in unterschiedlicher Weise: Das hat mich belastet, Mutter, dabei ist es gar nicht mein Thema. Es ist deines. Dieses Mittragen deiner Einsamkeit habe ich unbewusst gemacht, das möchte ich jetzt nicht mehr. Unsere gute Verbindung, unsere Verbundenheit, darf immer bleiben. Nur deine Einsamkeit will ich nicht mehr tragen, denn sie gehört gar nicht zu mir!
Nach etwa 1,5 Jahren intensiver Einzelarbeit und Mitgliedschaft in der Männergruppe steht Roland viel freier und fester auf dem Boden und verabschiedet sich von mir und der Gruppe.
Rosemarie: Wenig Energie und Mutlosigkeit
Rosemarie ist 39-jährig, geschieden und seit Jahren allein erziehende Mutter ihres 7-jährigen Sohnes. Sie arbeitet ca. 70% als Sekretärin und bezieht noch etwas Geld vom Sozialamt.
Zu Beginn unserer Sitzungen ist sie physisch und psychisch erschöpft. Sie beschreibt ihren Alltag als einen einzigen ruhelosen Kampf von früh bis spät. Richtige Ferien hat sie schon lange keine mehr gehabt. Finanziell ist sie sehr knapp dran.
Bei ihrer Arbeit lässt sie sich zu oft ausnützen: Immer wieder wehrt sich Rosemarie zu wenig, wenn ihre Kolleginnen ihr kurz vor Arbeitsschluss Unerledigtes herüber schieben mit der Haltung: „Ja, ja, die Rosi macht das schon!“ Auch fühlt sie sich von ihren Kolleginnen ausgegrenzt, weil sie die einzige ist, die aufs Geld achten muss und einiges nicht mitmachen kann. Und auch weil sie die einzige ist, die bei Arbeitsschluss um 16 Uhr pünktlich gehen sollte, weil sie ihren Sohn vom Kinderhort abholen muss.
Das Sozialamt setzt sie unter Druck, bald eine billigere Wohnung zu finden; dabei hält sie ständig danach Ausschau, jedoch bisher ohne Erfolg. Im Wohnblock werden ihre Waschküchen-Termine ausradiert – auch hier muss sie sich wehren und klagt: „Ich muss so vieles schlucken!“
Rosemarie wuchs als einziges Mädchen mit vier Brüdern auf. Wenn sie etwas anderes als ihre Brüder wollte oder aufbegehrte, wurde sie oft vom Vater geschlagen und von ihrer Mutter nicht in Schutz genommen. Das hat ihr Selbstbewusstsein und ihre Wehrbereitschaft nicht gerade gefördert. Als Erwachsene stösst sie genau damit immer wieder an ihre Grenzen: Von überall her fühlt sie sich unter Druck und sollte sich besser wehren können.
Manchmal, wenn ihr alles zuviel wird und sie keine Kraft mehr hat, sehnt sie sich nach Ruhe, Harmonie, Geborgenheit, finanzieller Sicherheit…, weiss aber nicht, wie sie das erreichen kann, und sieht sich in einer ausweglosen Situation.
Ihre Ziele sind:
Mehr Kraft und Energie finden / sich besser wehren können / Freunde finden / leichter und zufriedener leben
Im Lauf der Zeit kommt Rosemarie ihren Zielen näher, aber – wie leider üblich – sind die Fortschritte nicht linear. Immer wieder muss sie Rückschläge in Kauf nehmen, und oft kommt es ihr vor wie „drei Schritte vor und zwei zurück“. Rosemarie wehrt sich bei der Arbeit und im Wohnblock immer erfolgreicher, wenn sie bedrängt oder zu Unrecht beschuldigt wird. Einmal, als sie einige Wohnungsnachbarinnen im Treppenhaus über sie reden hört, nimmt sie ihren ganzen Mut zusammen, tritt ins Treppenhaus, stellt die Nachbarinnen in aller Lautstärke zur Rede und riskiert einen offenen Streit (über das leidige Waschküchen-Thema). Stolz und voll Genugtuung erzählt sie davon: „Jetzt hab ich endlich mal was Gutes für mich getan.“
Rosemarie realisiert, dass zwei alte Kolleginnen gar nicht wirklich für sie da sind, wenn sie sie mal braucht, und dass sie in diesen Beziehungen mehr die Gebende ist. Sie sagt: „Solche Freundinnen habe ich nicht nötig!“ und verabschiedet sich innerlich von ihnen. Damit nimmt sie ein Stück mehr Einsamkeit in Kauf. Dafür wird Platz frei für bessere Freundschaften.
Nach langem und geduldigen Ausharren in der Liebesbeziehung zu einem Mann, der aber nicht wirklich frei ist, weil noch verheiratet, und der seine Versprechen mehrmals nicht hält, löst Rosemarie diese Verbindung auf. „Lieber kein Partner, als einer, der mich fertig macht“, lautet ihre neue Devise. Ihr wird auch bewusst, dass ihre Liebschaften immer nach dem gleichen Schema funktioniert haben: Sie opferte sich dem Mann gegenüber auf, nach dem Muster: „Ich muss etwas leisten, damit ich geliebt werde.“ Eine neue Einstellung könnte lauten: „Man liebt mich so, wie ich bin. Ich finde einen Partner, der gut ist für mich und mit dem ich das Leben geniessen kann“.
Rosemarie findet eine günstigere Wohnung in einer anderen Gemeinde. Dadurch verabschiedet sie sich vom Sozialamt, was ihr viel Druck wegnimmt. Die neue Wohnung ist in der Nähe ihrer Eltern; das bedeutet, dass ihr Sohn nicht mehr im Hort, sondern bei ihren Eltern zu Mittag essen kann. Das entlastet sie finanziell. Allerdings steht dadurch Rosemaries schwierige Beziehung zu den Eltern wieder mehr im Vordergrund. Sie schafft es aber, ihren Eltern erwachsener gegenüber zu treten und nicht aus Dankbarkeit oder schlechtem Gewissen wieder in die Rolle des wehrlosen Opfers zu fallen. Erkenntnisse aus dem systemischen Familienstellen unterstützen sie dabei. Dadurch lernt sie, mit ihren Eltern besser umzugehen. Die Eltern lernen – nicht immer erfreut – eine neue, stärkere Tochter kennen. Die Beziehungen verbessern sich.
Sie hat mehr Selbstsicherheit und mehr Lebensfreude, hat etwas „Luft zum Atmen“ bekommen. Sie beginnt sich zum ersten Mal seit Jahren zu fragen, ob nicht eine andere berufliche Tätigkeit ihr besser gefallen würde als die Sekretärinnen-Arbeit. Ich ermutige sie, da weiter zu denken und diese neuen Gedanken nicht vorschnell wieder aufzugeben, nur weil gerade keine Lösung in Sicht ist.
Rosemaries Weg geht weiter; das Schlimmste ist überstanden. Das Leben lockt!
Walter: Entscheidung für oder gegen Kinder
Walter, ein 40-jähriger Computerfachmann, kommt während 3 ½ Monaten zu mir in die Beratung, um Hilfe für seine Entscheidung zu bekommen, ob er mit seiner neuen Partnerin eine zweite Familie gründen soll. Walter ist seit 7 Jahren getrennt, seit 1 Jahr geschieden von seiner Exfrau, zusammen haben
sie 2 Kinder, die 18- und 13-jährig sind.
Walter sagt, seit 7 Jahren, seit er und seine Frau sich getrennt haben, habe er „Mühe mit Beziehungen“. Frauen-Bekanntschaften, Beziehungs-Versuche kommen und gehen, immer vermisst er im Zusammensein mit Freundinnen „Freude und Leichtigkeit“, was dann früher oder später zum Abbruch der Bekanntschaft führt. Wieso das so ist, kann er sich nicht erklären.
Vor einem halben Jahr hat er seine jetzige Partnerin Mirjam kennengelernt, eine 34-jährige Modeverkäuferin. Mit ihr erlebt er eine gewisse Leichtigkeit und Lebensfreude. Mirjam hat einen starken Kinderwunsch. Sie möchte sich nur noch auf einen Mann einlassen, mit dem sie eine Familie gründen kann. Das hat sie Walter auch von Anfang an gesagt, und weil er auf dieses Thema immer ausweichend und unklar reagierte, hat sie ihm ein Ultimatum gesetzt: Bis Ende Jahr möchte sie von ihm wissen, ob er Ja oder Nein zu einem Kind sagen kann. Sie braucht von ihm Klarheit.
In einer Einzelsitzung lerne ich auch Mirjam kennen, was für mich, für die Begleitung von Walter, sehr aufschlussreich ist. Sie sagt, sie fühle sich extrem wohl mit ihm. Manchmal im Bett sei für sie Walters Exfrau spürbar. – Das bestätigt mein Eindruck, dass bei Walter einiges aus der Beziehung mit seiner Exfrau noch nicht verarbeitet und abgeschlossen ist. Die „fehlende Leichtigkeit“, die Walter im Zusammensein mit Frauen begegnete, hat vermutlich mit Schuldgefühlen zu tun und damit, dass die Eheleute zwar getrennt und geschieden sind, aber sich noch nicht wirklich losgelassen haben.
Auf meine Empfehlung, zum besseren Abschliessen der Ehe und der Beziehung für sich eine Systemische Aufstellung zu machen, steigt Walter zwar nicht ein, aber immerhin besucht er im darauf folgenden Monat als Schnuppergast mein Familienstellen-Seminar. Das gibt ihm viele neue Imputs, mit denen wir gut weiter arbeiten können.
In einer weiteren Sitzung machen wir zusammen eine Pro- und Kontra-Liste mit Argumenten, die für Walter für oder gegen eine Familiengründung mit Mirjam sprechen. Es sprechen mehr Punkte dafür als dagegen:
Pro: Gemeinsam etwas erschaffen / Familie als „Hafen“ und „Halt“ / Festigung der Beziehung / „Klarheit“ / durch Kinder mehr Lebensfreude.
Kontra: Viel Arbeit / grosse Verantwortung / Einschränkung der Freiheiten.
In der letzten Sitzung Ende November erklärt mir Walter, dass er daran sei, Nein zu sagen zum Kinderwunsch von Monica. – Was weiter geschah, entzieht sich leider meiner Kenntnis, jedoch finde ich es gut, dass Walter offenbar eine Entscheidung treffen konnte, und in bezug auf seine getrennte Ehe einiges besser abschliessen konnte.
Silvio: Thema Schlaflosigkeit
Silvios Thema waren seine Nächte. Seit Jahren schlief der 42-jährige Lehrer nicht mehr durch. Immer wieder erwachte er und konnte kaum mehr einschlafen. „Gute Nächte“, wie er sagte, waren Nächte, in denen er drei Stunden am Stück schlafen konnte. Morgens stand er mühsam auf und fühlte sich kraftlos und wie gerädert.
Da Silvio sich bis anhin schon sehr mit seinem Thema Schlafen auseinandergesetzt hatte, vermied ich am Anfang bewusst dieses Thema, sondern wollte mehr über sein Leben erfahren. Obwohl er von sich sagte, dass er (ausser den Schlafproblemen) ein gutes und zufriedenes Leben führte, kamen im Lauf unserer Gespräche immer mehr Themen zum Vorschein, wo Silvio nicht wirklich zufrieden war. Wenn er von seiner Freundin, mit der er zusammenlebte, sprach, störte ihn, dass sie oft passiv war, vor dem Fernseher festhing und für gemeinsame Ausgänge oder Sport kaum zu bewegen war. Silvio hatte keine Lust mehr darauf, dass alle Initiative für gemeinsame Unternehmungen von ihm ausgehen sollte.
Er genoss es, mit mir von Mann zu Mann offen über seine sexuellen Wünsche zu sprechen; über sein Problem, mit seiner Freundin „zu früh zu kommen“ und darüber, dass er sich von anderen Frauen mächtig angezogen fühlte. Ich machte ihm Mut, mit seiner Freundin offener und direkter zu sprechen.
Silvio erzählte von heftigen Träumen, in denen er Kind war und von seinem Vater gehänselt und geplagt wurde. Dagegen konnte er sich nicht wehren. In unseren Gesprächen über seine Beziehung zu seiner Familie wurde ihm bewusst, dass er über seinen Vater nur schlecht und abschätzig dachte und zu seiner Mutter eine viel zu enge Beziehung hatte. Zudem fühlte er sich für das Glück seiner Eltern verantwortlich und war oft bestrebt, während seinen Besuchen im Elternhaus zwischen Vater und Mutter zu vermitteln. Die Eltern noch ein Stück mehr loszulassen und dafür mehr Kraft und Bestimmtheit für sein eigenes Leben zu haben, wurde eine weitere neue Aufgabe für Silvio.
Über seinen Beruf als Lehrer sagte Silvio, dass er manchmal sehr zufrieden damit sei, und manchmal denke, dass das „doch nicht schon alles gewesen sein könne…“ Auf zwei grossen Zeichnung machte er eine Standortbestimmung: Er zeichnete seine früheren beruflichen Stationen, seine gegenwärtige Situation und rechts am Rand auch die Zukunft. Damit wurde nur soviel klar, dass in naher oder ferner Zukunft sein beruflicher Weg weiterführen wird; über das Wie und Was zu sprechen, fand er noch zu früh. Silvios Schlussfolgerung zum Thema Beruf war, dass er zwar geglaubt hatte, da bald etwas ändern zu müssen, aber jetzt sah, dass es „mehr um sein Leben als um den Beruf“ gehe.
Silvios stärkster Entwicklungsschritt war, seine unterdrückte Wut wahrzunehmen und rauszulassen. Das bewirkte in seinem Alltag, dass er sich mehr und mehr bewusst wurde, wie oft er „es allen recht machen“ wollte. Silvio begann in der Beziehung zu seiner Freundin, zu den Eltern und auch bei der Arbeit, schneller Nein zu sagen, wenn ihm etwas nicht passte. Er begann, sein Leben mehr selbst zu bestimmen, was ihn sichtlich zufriedener machte. Immer wieder erzählte er, dass er jetzt viel besser schlafen könne. Ganz gut sei es zwar noch nicht, aber er sei schon sehr zufrieden damit. Nach einem halben Jahr intensiver Arbeit entschloss sich Silvio, mit den Sitzungen bei mir aufzuhören. Wir verblieben so, dass er sich jederzeit wieder melden könne, auch nur für einzelne Stunden, wenn er das Bedürfnis danach habe.
Susanne: Trauer überwinden, neue Lebenskraft finden
Susanne ist eine 45-jährige Witwe, Mutter von drei Kindern. Die 23-jährige Tochter lebt allein; der 21-jährige Sohn lebt bei ihrem Exmann, mit dem sie eine gute Beziehung pflegt. Ihr 10-jähriger Sohn lebt bei ihr und besucht die Schule. Bis vor drei Monaten, seit etwa sechs Jahren, hat Susanne in glücklicher Ehe mit ihrem zweiten Mann zusammengelebt, bis er plötzlich und unerwartet von seiner Arbeit nach Hause kommt, zusammenbricht und stirbt. Das hat Susanne schwer getroffen.
Zudem sind im gleichen Jahr ausser ihrem Mann auch ihr Vater gestorben und zwei ihrer Schwager, mit denen sie sich sehr gut verstanden hatte. Und noch nicht lange her hat sie vernommen, dass ihre erste grosse Liebe in einem Sportflugzeug abgestürzt ist.
„Was bedeuten diese vielen Todesfälle?“ fragt sie sich. Und: „Warum trifft das Schicksal mich so hart?“ Susanne hat von ihrer Ärztin Beruhigungs- und Schlafmittel bekommen und den Rat, sich bei einem Psychologen Hilfe zu holen.
Müde und sehr traurig meldet sich Susanne zu einem ersten Gespräch. Während den ersten paar Stunden, die einmal pro Woche stattfinden, hat Susanne enorm viel zu erzählen, wobei ihr oft die Tränen kommen. Die Gespräche tun ihr gut und beruhigen sie.
Unsere Gespräche drehen sich um die Themen:
– Trauer über den Verlust des Ehemanns, Verarbeiten dieses Schicksalsschlags.
– Gut für sich selbst sorgen. Im Kontakt mit Freunden und Bekannten Aktivitäten vermeiden, die sie zu sehr an ihren verstorbenen
Mann erinnern. Notfalls muss sie ihr hoch stehendes Prinzip „Was man einmal versprochen hat, das hält man“ loslassen, um nicht noch
mehr zu leiden. Mutig neue Entscheidungen fällen und dadurch selbstbewusster und stärker werden.
– Verarbeiten ihrer schwierigen Kindheit (wenigstens teilweise).
– Wiederfinden der eigenen Kraft. Wieder auf „eigenen Beinen stehen“.
– Ruhiger werden. Weniger gestresst sein. Den Haushalt weniger perfekt führen, dafür das Leben mehr geniessen.
Nach einem halben Jahr intensiver Arbeit, während derer Susanne nicht nur getrauert und verarbeitet hat, sondern auch mehr Selbstbewusstsein und Lebensfreude gewonnen hat als früher, wünscht sie, die Begleitung bei mir abzuschliessen.
Der plötzliche Tod ihres Mannes war für sie der Anlass, sich mit wichtigen Themen ihres Lebens auseinanderzusetzen und allgemein selbstsicherer zu werden.
Heute ist sie immer wieder selbst Beraterin von Verwandten und Freunden, die in einer Krise stecken. Das kann sie besonders gut, nachdem sie am eigenen Leib erfahren hat, was es heisst, „im Loch“ zu stecken und daraus wieder aufzustehen.
Acht Monate nach Abschluss ihrer Sitzungen bei mir, schreibt mir Susanne, dass es ihr sehr gut gehe und dass sie sich wieder verliebt habe. Sie schreibt, sie hätte immer gedacht: So einen guten Mann wie ihr verstorbener Ehemann finde sie bestimmt nicht mehr. Heute weiss sie, dass das stimmt. Der neue Mann sei ganz anders als ihr Verstorbener. Und das sei sogar sehr gut so.